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Wie ich die Bibel lesen und verstehen möchte.

An sich mach ich es mir leicht. Nach 25 Jahren Atheismus/Agnostizismus mit kleinen spirituellen Ausflügen, vielen Büchern über Religion und die Bibel an sich, ist sie mir zwar sehr ans Herz gewachsen (und vielleicht auch das Buch für die einsame Insel), aber ich kann bis heute nichts mit Labels anfangen wie: “Gottes Wort”, “göttlich inspiriert”, “Gottes Wort in Menschen Wort” usw.

Sie ist das grundlegende spirituelle Dokument für Judentum und Christentum, keine Frage. Sie gibt vielen Menschen Kraft und hat sehr viel Unheil angerichtet (und tut es noch). Sie war und wird als Machtinstrument missbraucht. (Die Aufzählung ist definitiv nicht vollständig.) Dabei ist es immer die Interpretation des Einzelnen oder einer Gruppe die Gutes und Schlechtes hierbei erst möglich macht. Aber es geht ja darum, wie ich sie verstehe…

Sie ist in erster Linie ein spirituelles Buch und möchte als solches gelesen werden. D.h. ich verstehe sie nicht wortwörtlich. Ich lese sie als Ausdruck von Erfahrungen von Menschen. Erfahrungen mit einer feindlichen Umwelt und den theologischen Erklärungsversuchen. Ich sehe in der Bibel eine Evolution des Gottesbildes, sehe ein Ringen um einen Gott, DIE Gutes wie Böses schafft und zulässt. Sehe einen rettenden und erlösenden Gott, einen rachsüchtigen teils sehr infantilen Gott. Vor allem aber sehe ich die Unsicherheit der Menschen, ihre Ängste, ihre Träume, ihre Verzweiflung, ihren Mut. Entdecke Menschen, die trotz der zeitlichen und kulturellen Distanz mit ganz ähnlichen Herausforderungen kämpfen wie ich es tue. Und sehe sie Kraft schöpfen in einem Glauben, ja, einer Hoffnung in etwas Absolutem, das so wenig greifbar wie verstehbar ist. Lese ich die Psalmen wird geklagt, wird um Tod und Vernichtung der Feinde gebeten. Aber es wird auch gedankt und vor Freude gelobt.

Am Ende dieses dicken Buches lässt sich ein Mann für seine Vision vom Reich Gottes ans Kreuz schlagen. Fordert seine Nachfolger auf den gleichen “Weg” zu gehen. Sagt von sich voller Zuversicht: Wer mich reden hört, hört nicht mich sondern den Vater.
Dieser Mann sagt, er sei hier, nicht um ein neues Gesetz zu bringen, nein, sondern um das Gesetz zu erfüllen. Und jetzt kommt’s: Ich sehe in diesem Mann genau den Menschen, der tatsächlich vielleicht als erster genau das erkannt hat, worum es in der Schrift eigentlich geht. Er hat es vollkommen verinnerlicht, lebt vollkommen danach. Hat das leise Säuseln wahrgenommen das zwischen den Zeilen zu hören ist und das in ihm schon immer da war. Dieser Mensch hat begriffen, dass Gott in ihm und durch ihn wirkt, wenn er den Raum dafür freigibt. Er hat erkannt, dass die Erfahrungen die dort beschrieben werden, Erfahrungen sind, die jeder machen kann, ja muss, um frei zu werden. Ähnlich wie Siddharta hat dieser Mensch durch die Erfahrungen des Lebens und des Lebens anderer genau das erkannt, was es heißt loszulassen und in seinem Fall sich der Liebe vollständig zu ergeben. Er ist den Schritt gegangen, den vor ihm (m.E.) noch keiner gegangen ist: Er hat sich dem “Willen” Gottes, hat sich der allumfassenden Liebe vollständig hingegeben.

Mein Fazit daraus:

Die Bibel erzählt von Erfahrungen und Erlebnissen von Menschen auf ihrem Weg hin zum eigentlichen Menschsein. Die Bibel erzählt von einem Prozess, der im Buch selbst mit Jesus seinen Abschluss findet. Aber das ist nur das Ende eines Buches. Viele Menschen haben diese Geschichte weiter geschrieben oder sind andere Wege gegangen. Keiner von ihnen hatte es leicht bei der Suche nach dem schmalen Pfad hin zum Leben – ich gestehe, dass ich für mich nicht sagen kann ob mein Weg vor mir nun schmal oder breit ist. Aber durch all die Menschen, die die Bibel und die vielen anderen Berichte beschreiben, habe ich eine leise Ahnung davon, dass sich der Versuch den schmalen Weg zu suchen und zu gehen, sich zu lohnen scheint.

Die Bibel ist ein faszinierendes und inspirierendes Buch. Keine Gebrauchsanweisung oder das (inspirierte) Wort einer Transzendenz. Sie zeigt mir Menschen auf dem Weg zum Menschsein in einer unmenschlichen Zeit und Umwelt. Also doch gar nicht so weit weg wie anfangs gedacht…

Foto: https://www.pexels.com/de-de/@fallon-michael-1928485